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Hölderlinhaus Nürtingen eröffnet

Nach Tübingen und Lauffen a.N. im Jahr 2020 wurde am 20. April 2023 das Haus der Familie Gok-Hölderlin in neuem Gewand der Öffentlichkeit übergeben. Als Haus der Bildung und der Kultur mit den Räumen der Volkshochschule, dem Kulturamt, einem Veranstaltungskeller und einer neuen Dauerausstellung zu Friedrich Hölderlin setzt es einen markanten Punkt in der Altstadt an der Neckarsteige.

Die Ausstellung „Möcht‘ ich ein Komet sein?“ thematisiert den Bildungsweg Hölderlins und seine „exzentrische Bahn“ - den Bogen seines Lebens, der ihn immer wieder von Nürtingen weg und nach Nürtingen hin geführt hat.

Prof. Dr. Thomas Schmidt | Deutsches Literaturarchiv Marbach Nürtingen | 20.4.2023

 

Zur Eröffnung des Hölderlinhauses

 

I.
Es gab Streit. Angefangen von der Frage, ob das Gebäude in der Neckarsteige nicht eher abgerissen und völlig neu gebaut werden sollte bis hin zu den Entscheidungen über die Anzahl der Etagen und die Gestalt des Daches. Solche Konflikte sind die Regel, wenn es um wichtige symbolische Orte unserer Gesellschaft geht – in der politischen wie auch in der literarischen Erinnerungskultur. Das kann man schon bei den ersten Dichterdenkmälern im 19. Jahrhundert beobachten – etwa als der Philosoph Arthur Schopenhauer an dem gerade eingeweihten Schiller-Denkmal gegenüber dem Alten Schloss in Stuttgart monierte, der Dichter stünde da, als könne er den Vers nicht finden. Das findet sich ein Jahrhundert später ebenso in der hitzigen Debatte darüber, ob Goethes im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstörtes Geburtshaus in Frankfurt wieder aufgebaut werden soll – eine Debatte, an der sich von Thomas Mann bis Carl Jaspers so ziemlich jeder beteiligte, der in der Öffentlichkeit damals eine Stimme hatte.

Um das Nürtinger Hölderlinhaus hat es Streit gegeben. Glücklicherweise, möchte man sagen. Denn dieser Streit zeigt auch, wie wichtig die literarische Kultur, wie wichtig der kreative, phantasievolle, spielerische und auf gemeinsame Wertperspektiven setzende Umgang mit der Sprache für unsere Gesellschaft noch immer ist. Glücklicherweise, möchte man sagen, wenn man das Resultat sieht.

 

II.
Der Streit um die richtige Gestalt eines Erinnerungsortes kreist zumeist um die Frage seiner Authentizität, denn das Authentische verspricht immer die größte Nähe zum einstigen Geschehen und die stärkste kulturpolitische Wirkung. Dabei ist aber unbedingt in Rechnung zu stellen, dass die Konzepte, die wir aus dem 19. Jahrhundert ererbt haben, die – um es pointiert zu sagen – durch die Aufstellung von vermeintlich originalen Möbeln in einem vermeintlich originalen Raum etwas Abwesendes, den Dichter und sein Werk nämlich, als anwesend inszenieren wollen, die nach einem religiösen Prinzip zu Andacht und passiver Verehrung mahnen, – dass diese Konzepte keine Zukunft haben. Europaweit lässt sich beobachten, dass überall nach neuen Wegen gesucht wird, wichtige authentische Orte wie das Nürtinger Hölderlinhaus zukunftsfähig zu machen.

Dass dabei die materielle Substanz des Gebäudes mit dem Zustand zu Zeiten seines wichtigsten Bewohners wenig zu tun hat, stellt die Bedeutung des Hölderlinhauses keineswegs in Frage. Es verbindet es vielmehr mit vielen anderen ähnlichen Orten: mit dem schon genannten Goethe- Haus in Frankfurt etwa, mit Schillers Geburtshaus in Marbach, mit Shakespeares Stratford upon Avon und auch mit dem bekanntesten Hölderlinort – dem Tübinger Turm –, deren unbestrittene Legitimität ebenfalls nicht vom baulichen Bestand abhängt.

Zwanzig Jahre hat Hölderlins Familie in diesem Haus gewohnt. Die folgenden zwei Jahrhunderte war das Gebäude – und ist es bis heute – ein Schulhaus, mithin ein Ort der Bildung. Seit 1811 war es immer wieder umgebaut worden und hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Gestalt innen und außen völlig verändert. Auch die leise Hoffnung, die lange Innenwand der einstigen Hölderlin’schen Beletage sei erhalten geblieben – eine Hoffnung, die ein bauhistorisches Gutachten von 2006 gestärkt hatte –, wurde bei genauerer Betrachtung enttäuscht. Kaum einer der Fachwerkbalken, so zeigte eine dendrologische Untersuchung, stammt aus Hölderlins Zeit. Ein solcher Balken, die Außenmauern und vor allem der Gok’sche Keller: Hausteile, die tatsächlich noch Hölderlin ‚atmen‘, sind durch den sorgsamen Rückbau des Hauses durch die Stadt Nürtingen als materielle Träger eines modernen Authentizitätskonzeptes erhalten geblieben und wurden entsprechend markiert.

Im Übrigen: Was wäre gewonnen, wenn wir viel mehr Substanz hätten und viel mehr über die Räume wüssten? Denken wir nur an die Beletage, auf der die Hölderlins gewohnt haben und an deren Stelle heute die Ausstellung eröffnet wird: Wir kennen die Raumstruktur aus den Bauakten. Wäre sie aber durch feste Mauern wiederhergestellt worden, bewegten wir uns durch fünf Räume, die heute klein und beengt erscheinen müssten – nicht großzügig großbürgerlich, obwohl sie zu Hölderlins Lebzeiten genau das waren. Die Nürtinger Antwort auf dieses Übersetzungsproblem von Authentizität, die Antwort des Gestalter-Büros BOK&Gärtner: Die Raumstruktur mitsamt der Enfilade wurde rekonstruiert, jedoch nicht durch feste Wände, sondern durch transluzente, also lichtdurchlässige und grafisch gestaltete Raumteiler. Das erzeugt eine Atmosphäre der Weitläufigkeit und übersetzt damit den zeitgenössischen Raumeindruck in heutige Wahrnehmung: eine innovative Interpretation von Authentizität, die Substanz bewahrt und Spuren offenlegt, aber nicht zu einer Kopie des Originals wird, die so unecht wirken würde wie ein preußisches Stadtschloss mitten im Berlin des 21. Jahrhunderts. Das Echte kann an einem literarischen Ort ohnehin nicht in Mauern und Möbeln stecken. Es muss im literarischen Ereignis selbst, in den hier entstandenen Texten und ihren Konzepten gesucht werden. Diese Suche wird hier in Nürtingen dadurch immens erleichtert, dass das Gebäude in der Neckarsteige selbst die längste Zeit seines Bestehens ein Haus der Bildung war

– und es bleiben wird –, dass Hölderlins erste Bildungserlebnisse aus der hiesigen Lateinschule stammen und dass er von hier aus zu seinen Bildungsorten Denkendorf, Maulbronn und Tübingen sowie zu seinen vier Hauslehrerstellen aufbrach. Eine überaus glückliche Fügung für ein zukunftsweisendes, das ganze Haus einbegreifendes Gestaltungskonzept. Hölderlins Bildungserfahrungen und -ideen sowie seine biografische und literarische Beziehung zu Nürtingen sind so auch die Schwerpunkte der Ausstellung.

 

III.
Hölderlins Ort. Hölderlins Orte. Fast alle gestalteten Orte der Erinnerung an diesen Dichter, dessen künstlerische und kulturelle Bedeutung zu Lebzeiten völlig verkannt wurde, liegen hier in Baden-Württemberg – und sie sind neu gestaltet: vom mutmaßlichen Geburtshaus in Lauffen über das Kloster Maulbronn bis hin zum Tübinger Turm. Und auch jener Ort, der Hölderlins literarischen Nachlass beherbergt, die Württembergische Landesbibliothek in Stuttgart, kann durch ihren Neubau für die Archivnutzung und für Veranstaltungen neue Akzente setzen. Ohne einer anachronistischen Dichterverehrung zu fröhnen, ergänzen sich diese Orte gestalterisch und inhaltlich und sind zukunftsweisend in die jeweilige kulturelle und touristische Infrastruktur eingebunden. Und nun auch »der Mutter Haus« hier in Nürtingen. Ob Lauffen und Maulbronn, ob Tübingen oder jetzt Nürtingen: All diese Orte durften wir vom Deutschen Literaturarchiv Marbach aus im Auftrag und mit Mitteln des Landes Baden-Württemberg beraten, fördern oder auch selbst kuratieren – stets orientiert am Subsidiaritätsprinzip, das die Initiativen vor Ort unterstützt, verstärkt und vernetzt. Dass dies nicht immer so war, zeigt die Reaktion des Marbacher Gründungsdirektors Otto von Güntter auf das Tübinger Engagement für Hölderlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Man brauche auch nicht für »jeden namhaften Berg der schwäbischen Alb einen besonderen Verein«; die Tübinger Initiative würde vielmehr

»die gesamtschwäbische Sache des Schillermuseums […] beeinträchtigen, in dem unter dem Namen des größten unter ihnen alle schwäbischen Dichter ihren Ehrenplatz« hätten. Heute dürfen wir von Marbach aus das Literaturland Baden-Württemberg profilieren – mit seinen fast um die 90 Ausstellungen, Museen und Archiven eine der lebendigsten und reichsten literarischen Landschaften Europas, in der Friedrich Hölderlin einen besonders exponierten Platz einnimmt.

Wenn diese Landschaft heute um ein Kleinod erweitert wird, viele Monate nach dem Ende des Jubiläumsjahres anlässlich seines 250. Geburtstags, das wir ja mit Ihnen, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, im Februar 2020 in Tübingen eröffnen durften, so ist das für die Hölderlin- Rezeption schon fast typisch. Nach Gedenk- und Jubeljahren dominiert eigentlich die

Ermüdung in der Sache. Bei Hölderlin indes ist wieder alles anders. Die kulturelle Energie, die deutschlandweit ins Hölderlinjahr investiert wurde, hat auch die Pandemie überstanden und treibt uns bis heute an.

 

IV.
Hölderlin hat seinem Nürtinger Halbbruder Karl Gok bereits am Ende seiner Tübinger Studienzeit geschrieben, die »Bildung des Menschengeschlechts« sei »das heilige Ziel« seiner literarischen Tätigkeit. Vier Jahre danach hoffte die Geliebte Diotima für Hölderlins Alter Ego Hyperion im gleichnamigen, zu Teilen hier in Nürtingen entstandenen Roman: »Du wirst Erzieher unseres Volks, du wirst ein großer Mensch sein«. Für den Dichter Hölderlin trog diese Hoffnung zu Lebzeiten. Er wird sich wenig später in seinem Gedicht Abendphantasie die verzweifelte Frage stellen: »Wohin denn ich?«. Und er wird, nachdem all seine Hoffnungen auf eine Professur oder eine eigene Zeitung zerstoben waren, desillusioniert und mit Bitterkeit seinem Freund Boehlendorff gegenüber resümieren: »[S]ie können mich nicht brauchen«.

Was für eine späte Genugtuung, was für eine Rehabilitation, wenn dieser Dichter, der sich an seiner Zeit wund gerieben und nach seinem Tod wie kein anderer die Künste inspiriert hat, nun im Zentrum jener Stadt, deren Bürger er Zeit seines Lebens war, ein ganzes Haus erhält – zumal ein Haus der Bildung, das nun ganz seine Texte und Ideen atmen kann. Etwas Besseres hätte Hölderlin und seinem Werk, etwas Besseres hätte der literarischen Kultur, etwas Besseres hätte Nürtingen und seinem Bildungszentrum nicht passieren können.

Man kann der Stadt, ihrer Bürgerschaft, ihrem Gemeinderat und ihrer Verwaltung zu dieser innovativen Interpretation eines Erinnerungsortes, der zugleich Ort einer aktiven, zukunftweisenden Kultur- und Bildungsarbeit ist, nur gratulieren. Die Beharrlichkeit, mit der Sie an diesem Projekt mehr als ein Jahrzehnt festgehalten haben – Ungewissheiten, hohen Hürden und massiven Rückschlägen zum Trotz – verdient größten Respekt. Wir sehen hier das Werk, ja: die Schaffenskraft einer mutigen Stadt. Ich bin Ihnen auch persönlich sehr dankbar dafür, dass ich dieses Projekt begleiten und an ihm lernen durfte. Und ich darf Ihnen – im Wissen darum, dass die Arbeit nach der Eröffnung eines solchen Hauses erst richtig beginnt – unsere weitere inhaltliche und finanzielle Unterstützung zusichern.

Die letzten Worte aber hat Hölderlin selbst – und es sind Worte der Demut, von denen ich mir wünsche, dass wir sie hier und heute auch für uns beanspruchen dürfen. Es sind Worte, die sich Hölderlin in seinem Gedicht Der Gang aufs Land für die Einweihung eines neuen gastlichen Hauses erhofft hat: »Wir, so gut es gelang, haben das Unsre getan.«

Das "neue" Hölderlinhaus Nürtingen
© Juergen Holzwarth
Das "neue" Hölderlinhaus Nürtingen
Die Ausstellung "Möcht' ich ein Komet sein?"
© Ehrenfeld
Die Ausstellung "Möcht' ich ein Komet sein?"